Zu unerwarteter neuer Aktualität verhalf John Dew, Intendant des Staatstheaters Darmstadt, die Fukushima-Katastrophe in Japan, die nur etwa drei Monate vor der Premiere seiner dritten „Ring“-Inszenierung mit dem „Rheingold“ im Juni 2011 passierte - wie eine Rückbestätigung seiner Ansicht, dass „Wagners Musik gewordene Endzeitversion auch heute nichts von ihrer Aktualität verloren, sondern eher noch an Schrecken gewonnen hat.“ Wie so oft nach einem stringent begonnenen Regiekonzept in „Rheingold“ und „Walküre“ ging aber auch bei John Dew in Darmstadt der Faden der sich vermeintlich in der ökologischen Katastrophe der Atomkraft andeutende Endzeitcharakter seiner Regie weitgehend verloren. Man sah sich insbesondere im „Siegfried“ einer vielfach schon woanders erlebten Alltagsästhetik und vordergründiger Banalisierung gegenüber, die doch einen dramaturgischen Einbruch in diesem „Ring“ mit sich brachten.
Es beginnt mit einem Biedermeier-artigen Schrebergarten bei Mime, einer kleinen Kürbiszucht und allerlei Gerümpel, welches sich in blauen Plastikmüllsäcken auch vor Fafners Höhle wiederfindet - doch allzu harmlos im Hinblick auf die zuvor beschworene Gefahr der Atompolitik Wotans, von der ansonsten im „Siegfried“ nichts zu sehen ist. Stattdessen erlebt man wie ein Zitat aus der legendären „Ring“-Inszenierung Patrice Chéreaus 1976 in Bayreuth dessen damals im Wesentlichen als Parodie betrachteten Drachen nun als Videospektakel (Videoprojektionen Karl-Heinz Christmann). Wäre da ein Blick in die legendäre Atomkraftwerksruine von Tschernobyl nicht passender gewesen?! Der Wanderer kommt als Bär aus dem Wald, die Wissenswette plätschert etwas farblos dahin - kurzum, spannungslos und mit allerhand Albereien wird der 1. „Siegfried“-Aufzug zum Tiefpunkt dieses Darmstädter „Ring“. Noch zu erwähnen wäre, dass der Waldvogel aus den Rängen flattert und zwitschert und Alberich immer wieder mal in der ersten Reihe des Parketts sitzt und sich das Geschehen von außen ansieht.
Eine gewisse Fallhöhe gewinnt der „Siegfried“ doch noch mit dem 3. Aufzug, der mit einem von Martin Lukas Meister wunderbar dynamisch dirigierten Vorspiel beginnt und Wotan zum letzten Mal in seinem Büro zeigt, wo er den wie eine Reliquie der Macht verstaubten Speer aus der Vitrine holt und im Dialog mit einer wahrlich mythisch wirkenden Erda noch einmal versucht, das Ruder herumzureißen - wie wir wissen, zu spät. Er hätte sich um die Umsetzung der Inhalte seiner Runen im Speer etwas früher kümmern müssen… Ein wahrlich guter Regieeinfall Dews ist, dass nach dem effektvollen Speerschlag Siegfrieds Wotan die Spitze liegen lässt, die Alberich, aus dem Parkett alles beobachtend, triumphierend aufgreift und mit der in der „Götterdämmerung“ noch ganz packendes Musik- Theater stattfinden soll. Der Gott hat die Insignien der Macht aus der Hand gegeben - nun verkehren sich diese in ihr Gegenteil und richten sich gegen ihn und sein Lebenswerk… In diesem Aufzug zeigt auch das variationsfähige Bühnenbild von Heinz Balthes seine schon zuvor unter Beweis gestellten Qualitäten. Es besteht aus acht bühnenhohen dunklen Stelen, die an die Säulen der Gibichungenhalle von Wieland Wagner erinnern, dessen Inszenierungsstil Dew zum Thema seiner Bachelor-Arbeit machte. Sie werden in immer neue Konstellationen gestellt und öffnen bzw. schließen so Räume, die zudem meist subtil beleuchtet werden. Die Kostüme von José-Manuel Vázquez sind nicht immer ganz auf die Ästhetik der Bilder abgestimmt und auch nicht immer geschmacksicher.
Auch sängerisch steht nicht alles zum Besten im „Siegfried“. Christian Voigt in der Titelrolle kann den Ansprüchen an die Partie in keiner Weise entsprechen. Die Stimme sitzt oben fest, hat kaum nennenswerte Resonanz und auch eklatante Höhenprobleme, dazu ist das Timbre nicht gerade schön und klingt bisweilen etwas verquollen. Nicht viel besser steht es um seinen Ziehvater Mime, den eingesprungenen Lasse Penttinen. Sein Tenor ist stark abgedunkelt und hat geringe Klangentfaltung und Glanz. V on einer tenoralen Höhe ist wenig zu vernehmen. Immerhin schafft Penttinen es, darstellerisch durch sein sehr engagiertes Spiel zu überzeugen. Ralf Lukas als Wanderer, recht überzeugend noch in der „Walküre“ im Januar (siehe Rezension weiter unten) mangelt es an Klangentfaltung gerade in den Höhen der Partie. Die Stimme sitzt etwas fest, und er agiert bisweilen mehr deklamatorisch als gesanglich. Wie schon in der „Walküre“ ist Lukas jedoch ein äußerst glaubwürdiger Wotan in der Reflektion seines nahenden Endes. Elisabeth Hornung singt als Erda teilweise falsch und hat ständig mit Intonationsproblemen zu tun, fast eine Fehlbesetzung. Thomas Mehnert hingegen ist ein stimmlich ansprechender Fafner. Auch der Waldvogel von Margarete Rose Koenn macht sein Sache aus den Rängen gut. Stefan Stoll ist ein intensiver und stimmlich guter Alberich. Katrin Gerstenberger ist um alle Höhen der Brünnhilde bemüht und erreicht sie in der Regel auch unter einer gewissen Kraftanstrengung. In der Höhe hat ihr Sopran jedoch einen gewissen Klangverlust und tönt bisweilen etwas fahl. So wird auch das hohe C am Ende eher gestemmt. Gerstenberger vermag vor allem mit einem sehr charismatischen Spiel zu überzeugen.
In der „Götterdämmerung erreicht der der Dewsche „Ring“ noch einmal einige Höhepunkte. Nachdem im Vorspiel alle nur denkbaren postmodernen Stereotypen von der Kaffeekanne bis zum Toaster und dem Brot mit Butter und Marmelade bedient worden sind, geht die Geschichte mit Wotans Speerspitze interessant weiter. Im 2. Aufzug gelangt sie von Alberichs Hand in jene Hagens in somnambulen Zustand, der sich der scharfen Waffe sichtbar bewusst wird. Zielstrebig setzt er sie zum Mord an Siegfried ein. Nachdem er ihn von hinten - theatralisch einmal gelungen - getroffen hat, bleibt Wotans Speerspitze wiederum liegen. Alberich zieht diesen im Hintergrund auf die Szene, um ihm den Mord an seinem Enkel zu zeigen. Siegfried war in einer ergreifenden Szene zuvor angesichts des eintretenden Todes in die Arme der seitlich erscheinenden, ganz in schwarz wie eine Todesbotin wirkenden Brünnhilde gesunken - eines der bewegendsten Bilder des gesamtes Darmstädter „Ring“. Aber Dew hat noch eine weitere fesselnde Idee: Als Wotan über Siegfrieds Tod in einer Versöhnungsgeste Brünnhilde umarmt und man meint, nun könne sich doch noch die Vater- Tochter-Beziehung klären, gewahrt er den Ring an des toten Siegfrieds Hand und giert erneut wie besessen nach dem Gold, selbst in diesem Moment größter emotionaler Bewegung… Ein unglaublicher Moment, der dazu führt, dass Brünnhilde den eigenen Vater wie einen Verbrecher mit der Speerspitze von der Bühne jagt! Am Ende kommt dann der zu erwartende Atompilz, der aber längst nicht mehr in Verbindung mit einem stringenten und über die vier Abende konsequent durchgeführten Regiekonzept steht.
Jeffrey Dowd ist als Siegfried der „Götterdämmerung“ zwar etwas besser als sein Vorgänger im „Siegfried“, kann jedoch den Anforderungen dieser Rolle nur begrenzt entsprechen. Er muss viel Kraft einsetzen, um die Töne zu bekommen und ist allzu sehr auf den Dirigenten fixiert, um darstellerisch wirklich glaubhaft zu werden. Hinzu gesellen sich auch Textprobleme. Katrin Gerstenberger singt die Brünnhilde um vieles besser und wieder mit einnehmendem Charisma, wenngleich die Stimme in den dramatischen Höhen doch an Klang verliert. Manchmal klingt sie leicht belegt. Eine Hochdramatische ist sie sicher nicht. Thomas Mehnert gibt einen manchmal leicht forcierenden Hagen, aber mit einer guten Rollengestaltung, wieder einmal in Militäruniform… Anja Jung als Waltraute führt ihren Mezzo nicht ganz sauber, wirkt auch als Figur wenig glaubwürdig in der so wichtigen Waltraute-Szene. Susanne Serfling hat als Gutrune ein hörbares Vibrato. Oleksandr Prytolyuk singt einen guten Gunther. Stefan Stoll ist auch der Alberich der „Götterdämmerung“, ein kraftvoller Bassbariton, nicht immer ganz gradlinig geführt. Einwandfrei singen die Nornen Gae-Hwa-Yang, Erica Brookhyser und mit Abstrichen Susanne Serfling als Dritte Norn. Die drei Rheintöchter Margaret Rose Koenn (Woglinde), Erica Brookhyser (Wellgunde) und Gae-Hwa-Yang sind besonders gut bei Stimme. Der Chor und Extrachor des Staatstheaters Darmstadt agiert stimmstark und transparent, einstudiert von André Weiss.
Der blutjunge neue GMD von Darmstadt, Martin Lukas Meister, dirigierte nach dem „Rheingold“ und er „Walküre“ auch diese beiden Abende mit bereits großer Wagner- Kompetenz. Schon das Vorspiel zu „Siegfried“ ließ beste Transparenz erkennen, und die tiefen Bässe konnten ihre Qualitäten ausspielen. Die meisten Hornrufe gelangen sehr gut. In den Orchester-Zwischenspielen zog Meister immer wieder Tempo und Intensität an, was zu einem sehr plastischen Klangbild führte. Er ging er stets auf die SängerInnen ein und stellte große Harmonie zwischen Graben und Bühne her. Meister ist sicher auf einem guten Weg zu einem wirklichen Meister, eine große Hoffnung am Dirigentenhimmel und für Darmstadt.
Fotos: Barbara Aumüller
Klaus Billand (www.klaus-billand.com)