Es kam wie es bei Frank Castorf, dem Intendanten der Berliner Volksbühne und Regisseur des neuen Bayreuther „Ring des Nibelungen“ zum 200. Geburtsjahr Richard Wagners, kommen musste. Die Zurücknahme der dramaturgischen Provokation in der „Walküre“ nach dem zwar konfusen, aber durchaus unterhaltsamen „Rheingold“, war nur ein Intermezzo. Er legte es wohl ein, um im „Siegfried“ erst richtig zuzuschlagen und zwar „kurz und heftig“, wie er auf der Pressekonferenz am 25. Juli sagte – wenngleich eher heftig als kurz. Am Fuße des in der Tat imposanten Gebirgsmassivs im US-amerikanischen South Dakota mit den kommunistischen Größen Marx, Lenin, Stalin und Mao statt der dort von Gutzon und Lincoln Borglum 1925 verewigten legendären US-amerikanischen Präsidenten Washington, Jefferson, Roosevelt und Lincoln – wie sollte es bei Castorf und zumal in Bayreuth auch anders sein – erleben wir nun die Einengung seiner „Ring“-Regie auf den offenbar immer noch nicht ausreichend abgehandelten Fall des realen Kommunismus.
Folgerichtig scheint das grün-weiß leuchtende Berliner S-Bahn-Schild schon auf der Seite von Mount Rushmore auf, und richtig: Bei einer Drehung um 180 Grad sehen wir uns im 2. Aufzug am nahezu real nachgebauten Berliner Alexanderplatz zur DDR-Zeit wieder. Immerhin nennt ihn Castorf “Exanderplatz”, sublim andeutend, dass er in der gezeigten Ästhetik mittlerweile ex ist… Da sind die rotierende Welt-Uhr, die mit ihren globalen Städte-Nennungen die kosmopolitische Komponente suggeriert, die von nun an dem Castorfschen „Ring“ immer mehr verloren geht. Da sieht man den U-Bahn-Abgang und getreu nachgebaute Fassadenteile, die die bekannte Ästhetik des „Alex“ ausmachen. Und da ist das Postamt mit Aktenregalen, aus dem Fafner offenbar als Chefzuhälter operiert und seine Girls in einer Arbeitspause mit sicher billigem Parfum erfreut. Von wegen „ich lieg’ und besitz’“ – ersteres tun hier andere… Man sieht auch die bekannten Mülleimer aus Waschbeton. An den Wänden kleben allerlei verhunzte DDR-Werbeplakate wenig reizvoller Produkte für die werktätige Bevölkerung – „Für sie, für ihn, für alle“. Kurz vor Schluss des Aufzugs krabbelt noch ein riesiges Nilkrokodil langsam in das Postamt…
Was zuvor im 1. Aufzug geboten wurde, war hingegen etwas weniger heftig, aber durchaus lang(atmig). Hier muss der Barkeeper aus dem „Rheingold“, Castorfs Dramaturg und Regieassistent Patric Seibert, vor dem blechernen Wohnwagen, der nun wahrlich keine Neuerung auf der Wagner-Bühne ist (Robert Carsen in Köln, von Francesca Zambello in San Francisco abgekupfert) erst den Bären und dann den am Strick gehaltenen Helfer am Trailer geben. Einmal muss er den vollbackigen Blasebalg imitieren und ansonsten wie ein Irrsinniger endlos Bücherstapel hin und herräumen und was sonst noch am wenigsten Sinn macht. Allerhand Camping-Gestühl wird schon wie im „Rheingold“ unter größtmöglicher Lärmentwicklung herumgestoßen. Krach und Müllentwicklung, also kleinliche und kleinkarierte Einengung, sind hier Trumpf. In diesem Tumult geht zwar Siegfrieds von R. Wagner teilweise auch subtil, da autobiografisch gezeichnete Nachforschung nach seiner Herkunft unter. Dafür entsteht aber viel Lärm mit dem abwechselnden Hantieren und Pseudo-Schmieden von Aluminiumleisten und Eisenstücken bis zur Enthüllung gleich zweier Kalaschnikows! Gleichwohl ist es am Ende des 1. Aufzugs wieder das heile Schwert Siegmunds, das geschwungen wird. Und oben schauen die vier eindrucksvoll gestalteten und von Rainer Caspar differenziert beleuchteten Köpfe der kommunistischen Vordenker und Realpolitiker über diese episodenhaften und scheinbaren bis tatsächlichen Bedeutungslosigkeiten und Beliebigkeiten hinweg. Nicht so das Publikum, wie sich am Ende herausstellen wird.
Burkhard Ulrich macht als Mime das Beste aus der ungewohnten Hyperaktivität, hat bei kraftvoller Mittellage aber bisweilen Mühe mit den Höhen. Auch bei Castorf muss er allzu traditionell Möhren klein hacken und einen widerlichen Gifttrank mischen… Allein Wolfgang Koch, der als Wanderer im „Siegfried“ auch stimmlich seinen stärksten Abend hat, sorgt, wohl auch durch seine exzellente Qualität als Sängerdarsteller, im 1. Aufzug für eine momentane Bedeutungsschwere. Die wird ihm aber gleich wieder genommen, als er mit der dunkel-perückten Erda im 3. Aufzug ein unsägliches Spaghetti-Essen mit Rotwein und einer Zigarette nach der anderen im Gastgarten vor dem Postamt veranstalten muss – am Ende schüttet sie ihm als Quittung ein Glas Rotwein ins Gesicht. Gleich darauf kommt sie dennoch als nun blonde Nutte wieder. Der Blowjob-Quickie auf dem „Alex“ wird durch die Überreichung der Rechnung durch den erneut den Kellner mimenden Seibert jäh beendet. Der „Wanderer“ kann sie natürlich nicht bezahlen. Kein Wunder, dass er Siegfried später den Speer oben auf den Höhen von Rushmore gleich ganz überlässt… Nadine Weissmann ist mit der wohlklingend leuchtenden Mittellage ihres vollen Mezzo an diesem Abend nicht ganz höhensicher. Zuvor gibt Martin Winkler als Alberich eine weitere Studie seines Underdog-Komplexes und kann, wie an den Vorabenden, wieder mit seinem markant-kernigen Timbre überzeugen. Sorin Coliban ist ein klangvoller Fafner, der nach einer das Haus zum Zittern bringenden MP-Salve sterbend noch viel zu lange singt… Der Castorfsche Realitätsbezug wirkt bisweilen willkürlich. Für einen älteren Zuschauer zwei Reihen hinter uns reichte das allein zu Kollaps und Erbrechen, was minutenlange Unruhe bescherte. Die entsprechende Ankündigung der Festspielleitung an den Türpfosten war zu klein und unscheinbar, um von allen entdeckt und gelesen zu werden.
Wen Castorf nicht interessiert, und dazu dürfte die Figur des Siegfried gehören, den lässt er alles andere als sympathisch erscheinen. Als sich rüpelhaft gebärdender Halbstarker im Lederlook von Adriana Braga Peretzki versucht Siegfried, dem in einem anmutig fantasievollen Kostüm aus dem Samba-Tempel Plataforma in Rio auftretenden Waldvogel nachzupfeifen, indem beide mögliche Blasinstrumente im Mülleimer suchen. Gewählt wird schließlich eine dreckige Salat-Plastikverpackung. Nun liegt auch endlich auf dem Alex der so erwünschte Müll herum, obwohl einige gut gefüllte hellblaue Säcke schon da waren. Auch für Siegfrieds „Horn“ findet sich nichts Besseres. Er wirbelt einfach eine Pfütze auf…. Mirella Hagen spielt und singt den Waldvogel anmutig als bis hierher einzig sympathische Figur mit bisweilen doch etwas zu leichtem Sopran. Sie darf Siegfried, bevor es zur Ermordung Fafners – freilich wieder vor Mount Rushmore – kommt, die ersten erotischen Erlebisse verschaffen.
Was da möglich ist, machen zur nun wohl endgültigen Publikumsüberraschung zwei Nilkrokodile vor, die sich im 3. Aufzug langsam zu Siegfried und Brünnhilde heranrobben und dabei schwerfällig eine Kopulation vollziehen. Auch hier erscheint Siegfried als wahrer Unsympath. Für Brünnhildes zwar nobler, aber immer heftiger werdende Zuneigung hat er nur ein unverständliches Achselzucken übrig und beschäftigt sich lieber mit der Speisekarte und dem Füttern des ersten Krokodils, nachdem sie diesem den Sonnenschirm ins hungrige Maul gesteckt hat. Als Siegfried endlich den Waldvogel aus dem Maul des anderen befreit hat, weiß er nicht, was er bei „Leuchtende Liebe, lachender Tod!“ nun mit den beiden Frauen anfangen soll… Nach soviel Beliebigkeit in Bild und Gefühl, wenn denn überhaupt eines dargestellt werden sollte, ist das eigentlich auch egal…
Überzeugend war Castorfs Zuschlagen, das nun tatsächlich mit aller Härte erfolgte, also nicht. Es wurde vielmehr ein theatralischer Rundumschlag, der den Eindruck nahelegt, er wollte sich spätestens mit dem „Siegfried“ vor der Tatsache drücken, dass es sich bei der „Ring“-Tetralogie Wagners um Musiktheater handelt – von der Idee des Wagnerschen Gesamtkunstwerks wollen wir erst gar nicht reden. Es wird mit der Beliebigkeit und der Plakativität aller möglichen skurrilen, kuriosen, absurden, albernen und auch nicht immer taufrischen Einfälle an diesem Abend klarer, dass Castorf den „Ring“ gar nicht ernst nimmt sondern ihn als Show-Vorlage für alle möglichen und unmöglichen Assoziationen und Momentaufnahmen des täglichen Lebens sieht, die allzu häufig beziehungslos nebeneinander stehen. Immediatismus, bisweilen krampfhaft anmutende Spontaneität und das Konzept, in nahezu störrisch versessener Opposition, ja bisweilen paranoid anmutend, immer das Gegenteil dessen zu machen, was vom Libretto, den Wagnerschen Regieanweisungen und der Musik sowieso gedacht war, beherrschen diesen „Siegfried“ weit mehr noch als das „Rheingold“. Vor diesem Hintergrund war nun auch die Ernsthaftigkeit des Öl-Themas anzuzweifeln. Der diesbezügliche Aufsatz im Programmheft, für das ebenfalls Patric Seibert verantwortlich zeichnet, erweist sich nun als Ente bei möglichen Erklärungsversuchen eines eventuellen Castorfschen Regieansatzes – größer noch als die Plastikente Alberichs im „Rheingold“…
Wie nach diesem „Siegfried“ zu erwarten war, ging es in der „Götterdämmerung“ weiter, wenn auch nicht ganz so grell, aber grell genug. Die Zusammenhanglosigkeit der einzelnen Szenen, die nahezu völlige Beliebigkeit von selten an den entsprechenden Stellen vorgesehenen Handlungen sind in ihrer Fülle kaum noch nachvollziehbar und sollten es wohl auch nicht sein – ebenso wenig wie die Öl-Thematik nun ernsthaft keine wirkliche Rolle mehr spielt und zu einem nur noch kursorisch angedeuteten Regie-Rohrkrepierer verkommt. Ein paar Öltonnen im Finale der „Götterdämmerung“ wirken wie eine hilflose Referenz an dieses einmal so stark in den Vordergrund geredete und geschriebene Thema. Als Hagen, der Totschläger vom Dienst und gleichwohl von Castorf während des Trauermarsches und im Finale beim Erlösungsmotiv Sieglindes video-technisch verherrlicht (Castorf O-Ton: „Gut, dass sie unter uns sind…!“), wie ein Irrer in eine dieser Tonnen hackt, fließt auch etwas Öl aus. Das ist zu wenig, um darin den Aderlass bzw. Untergang eines wie auch immer gearteten und verkommenen Systems zu dokumentieren, den er mit den Bildern von Aleksandar Denic wohl zeigen will.
Stattdessen sieht man sich in der „Götterdämmerung“ nun noch intensiver als im „Siegfried“ in der zum Überdruss bekannten und schon so oft abgehandelten DDR-Aufarbeitungs-Ästhetik wieder. Ein immer wieder um 180 Grad auf der Bayreuther Riesen-Drehbühne rotierender Aufbau zeigt auf der einen Seite eine wie von Christo verpackte Fassade, die sich im 3. Aufzug erwartungsgemäß und somit nicht mehr überraschend als die Stock Exchange an der Wallstreet entpuppen sollte. Auf der Rückseite sind die tristen Klinker-Fassaden der à la Ostberliner Tacheles stehen gebliebenen Häuserfronten der Nachkriegszeit zu sehen, in deren Nischen sich nun die kleine Welt einer Dönerbox nebst Obstverkauf und entsprechenden Utensilien breit gemacht hat. Ein Stück der Berliner Mauer darf natürlich nicht fehlen. Hier agieren die „Gibichungen“, Gunther als zurückhaltend bedachter Schwächling und Gutrune als grell gezeichnetes Flittchen, das sich über eine Isetta von Hagen angesichts des gelungenen Siegfried-Brünnhilde-Deals freut… In einer Nische zwischen beiden Fronten gewahrt man im Prolog einen Altar mit einer Mischung aus Synkretismus und Voodoo, dem die Nornen einen abgeschnittenen Kopf, Widder-Gehörn, tote Hühner und allerlei Knochen und Heiligenbilder zutragen. Ein Totenkopfkönig im Purpur-Mantel sorgt für vermeintliche Anbetungswürde, wird aber vom Proleten Hagen mit Irokesen-Schnitt mit Schnaps prustend benässt… Mythos kommt hier nicht durch, stattdessen beschmieren die Nornen, die zunächst als Müllsäcke daher kommen, mit Blut die Wände. Alejandro Marco-Burmester singt den Gunther mit klangvollem, aber zumindest hier nicht allzu groß wirkendem Bariton. In Lyon klang er als Klingsor vor einiger Zeit kräftiger. Allison Oakes singt und spielt dem Rollenprofil entsprechend eine nicht allzu intensive Gutrune. Attila Jun ist zwar darstellerisch äußerst aktiv, bekommt am Schluss aber nicht ganz unverständliche Buhs für seinen stimmlich überforderten und undeutlich singenden Hagen. Für den wieder vokal wie spielerisch überzeugenden Martin Winkler als immer noch ernst zu nehmender Alberich ist die Hypnose seines Sohnes nur ein Intermezzo. Vielmehr scheint ihn eine Nutte zu interessieren, die ihn – der Koffer ist schon gepackt – vor der Abreise oben im Treppenhaus noch einmal beglücken möchte – er ist ohnehin schon in der Unterhose unterwegs…
Ganz und gar unsäglich geraten die Szenen mit Brünnhilde und Siegfried am Trailer und die Waltrautenszene. Wieder die banale Campingplatz-Ästhetik und das pausenlose Hin- und Hergerücke von den hier üblichen Stühlen und schließlich auch noch eine Waltraute, die – trotz weiterhin orientalischen Outfits – in den bourgeoisen Klamotten von Brünnhilde wuselt, obwohl sie einen vorsintflutlichen Bogen in Händen hält. Claudia Mahnke kommt stimmlich leicht flatterhaft durch die Waltraute-Erzählungen, überzeugt aber umso mehr als 2. Norn. Okka von der Damerau ist wieder eine exzellent intonierende Flosshilde und auch 1. Norn. Julia Rutigliano als Wellgunde und Mirella Hagen als Woglinde singen und spielen die ungewohnten Rollenprofile der Rheintöchter klangvoll und einfallsreich. Christiane Kohl komplettiert das gute Ensemble als 3. Norn.
Die von Eberhard Friedrich wie immer bestens einstudierten Mannen kommen aus den Tacheles-Klüften und liefern sich an der „Dönerbox“ allerlei Händel um die besten Drinks des Kellners P. Seibert, der auf einmal mit einer 100 US-Dollarnote am Kopf serviert… Später winken sie mit den Flaggen aller Herren Länder wie einst auf der „Meistersinger“-Festwiese von Wolfgang Wagner – Provokation oder einfach mal wieder Beliebigkeit? Man weiß es zu diesem Zeitpunkt bei Castorf nicht mehr. Alles ist möglich, aus dem Erkennen von Ungereimtheiten, meistens gegen Musik und Text und das, was man an sich aus der Kenntnis des „Ring“ erwartet, soll etwas Neues entstehen, neue Sichtweisen, vielleicht die Änderung von Verhalten?! Das leuchtete vielen nicht ein, dazu waren die Assoziationen zu vage, zu wenig inszeniert, oft zu belanglos, als dass man sich darüber überhaupt noch Gedanken machte. Und dafür war die Einengung auf die am Ende mit Hinweisen auf das alte VEB-Kombinat MINOL und die VEB Chemischen Werke Buna mit „Plaste und Elaste aus Schkopau“ durch knallige, übergroße und immer wieder zu ertragende Lettern einfach zu provinziell, um wesentliche Teile des Publikums zu überzeugen.
Etwas verloren, aber dennoch nahezu hymnisch sang nach diesem Wirrsal eines allzu plakativen und an allen vier Abenden jeden Rest von Menschlichkeit und gar Liebe unterdrückenden Geschehens die bis zur „Götterdämmerung“ immer stärker werdende Catherine Foster in ihrem gelungenen Bayreuth-Debut den Schlussgesang der Brünnhilde. Sie bekam am Ende unter den Solisten auch den größten Applaus. Selbst Siegfried musste seine normalerweise Emotionen entfachenden finalen Erkenntnistakte unsichtbar hinter einem Bretterverschlag singen. Man sah nach Hagens Niederknüppelung mit dem Baseball-Schläger gerade noch seine blutenden Finger. Lance Ryan hatte es mit dieser Rolle in der „Götterdämmerung“ stimmlich nicht leicht. War sein greller und in der Tendenz meist zu lauter Tenor im „Siegfried“ noch in der Lage, relativ ansprechend zu differenzieren, klang die Stimme in der „Götterdämmerung“ schon arg verhärtet, wie das zuletzt auch bei seinem Frankfurter „Ring“ zu hören war. Das ständig zu laute und nun auch kaum noch zu nennenswerter Phrasierung fähige Singen wird ihm möglicherweise noch Probleme bereiten. Optisch ist er ein nahezu idealer Rollenvertreter und vermittelte auch darstellerisch einen stets souveränen Eindruck.
Trotz einiger gelegentlicher interessanter Deutungen und Bilder machte sich am letzten Abend dieses neuen Bayreuther „Ring“ wie schon in der von der Personenregie her kaum inszenierten „Walküre“ auch Langeweile breit. Mit seinem immediatistischen Collagen-Charakter trägt dieser „Ring“ einfach nicht, und da hilft auch keine Entschuldigung des Dekonstruktivisten Castorf mit dem vermeintlichen Eklektizismus der Tetralogie – ganz abgesehen davon, dass er die Musik zu keinem Zeitpunkt ernst zu nehmen scheint. Nur ein Beispiel für viele: Bei Siegfrieds Rheinfahrt legt sich der Fahrende auf ein von zwei Bierfässern gestütztes Brett und schläft ein… Vom Wagnerschen Gesamtkunstwerk „auch gar keine Spur. Immerhin hatte der Bayreuther Meister den „Ring des Nibelungen“ aus innerer Notwendigkeit und Logik durchaus stringent von hinten nach vorne geschrieben. In Bayreuth waren aber viele imposante Bühnenbilder in einer bemerkenswerten und bisweilen attraktiven Ausnutzung der Bühne zu sehen. Sie hätten durchaus den Rahmen für eine globalere und somit auch mutigere, da riskantere Interpretation der Tetralogie bilden können. Das Öl-Thema hätte dafür auch interessantes Material gebracht, wenn es denn auch aktueller ausgerichtet worden wäre. Osterberliner Nachkriegs-Hinterhöfe mit Döner- und Obstkisten-Ästhetik, wenn auch durch Mount Rushmore und Wallstreet optisch ansprechend aufgemischt, sowie die nicht immer stringenten und oft nur ablenkenden oder gar belanglosen Videos auf Leinwänden und Fernsehgeräten von Andreas Deinert und Jens Crull konnten dies nicht.
Am Schluss gab es für Frank Castorf und sein Regieteam einen fast zehnminütigen Buhorkan, dessen Länge und Intensität er mit allerlei Gesten und Körperhaltungen selbst nahezu moderierte. Zu Beginn schien er allerdings über die Intensität der Ablehnung seiner Inszenierung durch das Bayreuther Premierenpublikum überrascht zu sein. Beendet wurde dieses bemerkenswerte Schauspiel durch das Heben des Vorhangs, der dann Kirill Petrenko mit dem Bayreuther Festpielorchester zeigte. Es erhob sich zu Recht nun ein Bravo-Sturm wie zuvor schon bei Petrenkos Einzelvorhängen. Er, das kann man wohl sagen, hat diesen „Ring“ musikalisch gerettet. Mit unglaublicher Sensibilität fand er sich nach einem noch etwas unentschiedenen, aber mit kammermusikalischen Qualitäten dirigierten „Rheingold“ schnell in die speziellen Bedingungen des Festspielhauses ein. Er ließ sich, abgesehen vom Lärm der MP-Salve, die er sich offenbar leiser gewünscht hatte, von dem häufigen Gewusel und Lärm auf der Bühne nicht beeindrucken und verhalf nach der „Walküre“ auch dem „Siegfried“ und der „Götterdämmerung“ zu einem großen musikalischen Erfolg. Von Castorfs aufgestellter Forderung, Musik und Text müssten sich gegen seine Dramaturgie durchsetzen im Sinne einer Gegenbewegung, ließ sich Petrenko offenbar nicht beeindrucken. Er folgte musikalisch zu jedem Zeitpunkt hörbar den Vorgaben Wagners und bewirkte ein unglaublich differenziertes Klangbild im Bayreuther mystischen Abgrund. Die Hörbarkeit gerade auch einiger Einzelinstrumente wie den Holzbläsern, war so auch nicht bei Ch. Thielemann zu erleben. Feine Konturen in den kontemplativen Momenten fanden bei Petrenko wunderbare Übergänge in dynamische Phasen und die akzentuiert dirigierten Orchesterzwischenspiele wie Siegfrieds Rheinfahrt, den Trauermarsch und das Finale der „Götterdämmerung“. Immer war große Transparenz Trumpf, die bei den Bayreuther Mischklangverhältnissen, zumal für Neulinge, gar nicht einfach zu bewerkstelligen ist. Hier ist schon ein Georg Solti gescheitert. Mit Kirill Petrenko kündigte sich ein neuer Meister am Pult für Bayreuth an.
Dieser „Ring“ – soviel kann man wohl jetzt schon sagen – wird sicher kein Jahrhundert-„Ring“ werden, sollte wohl aber auch gar keiner werden. Provokation war Trumpf, absurdes Theater stand Pate, großartiges Theater von Ionesco. Aber das ist eben Theater – hier sind wir im Musiktheater, und das stellt doch andere Anforderungen. Wer in erster Linie Unterhaltung wollte, hatte vielleicht seinen Spaß. Wer schon einmal Wagners „Ring des Nibelungen“ als Musikdrama erlebt hat, der war hier eher fehl am Platz. Ist das die neue Bayreuther Ästhetik?! Denjenigen, die nun sagen, auch der Chéreau-„Ring“ von 1976 wurde nach anfänglich heftigen Publikumsprotesten ein Jahrhundert-„Ring“, sollte man in Erinnerung rufen: Damals wagte Chéreau es „Wagner vom Podest zu holen“ und bezog sich auf eine fundamentale Änderung des relativ homogenen Inszenierungsstils, der bis dahin von Wieland und Wolfgang Wagner im Sinne des Neu-Bayreuth gepflegt wurde. Chéreau begründete damals zusammen mit Joachim Herz („Ring“ in Leipzig) und Ulrich Melchinger („Ring“ in Kassel) das sog. Wagnersche Regietheater. Das war in der Tat eine Zeitenwende. Der „Ring“ von Castorf hingegen fügt sich in vielerlei Hinsicht durchaus in die seit langem bekannte Regietheater-Ästhetik ein – Wagner ist längst vom Podest… Chéreau zeigte ganz andere Dimensionen auf und – das sei nicht vergessen – er bekannte sich explizit zu Menschlichkeit und Liebe im „Ring“, die von den damaligen SängerInnen auch intensiv gestaltet wurden und damit ein viel größeres Identifikationspotenzial für das Publikum boten. Das ist beim „Ring“ von Castorf, der sicher in der nicht mehr ganz so intensiven Bayreuther Werkstatt noch einige Nachbesserungen, sicher aber keine Wende mehr erfahren wird, ganz anders.
Fotos: Bayreuther Festspiele/Enrico Nawrath
Klaus Billand: die letzten beiden
Klaus Billand