Im Jahre 2011 inszenierte John Dew, Intendant des Staatstheaters Darmstadt, zum zweiten Mal Richard Wagners „Ring des Nibelungen“, nach einer ersten Annäherung an den „Ring“ mit einer Produktion in Krefeld 1981. Aus Anlass des Wagner-Jahres 2013 bringt das Staatstheater Darmstadt, welches vor einigen Jahren auch eine gute Inszenierung des „Parsifal“ von John Dew zeigte (Merker berichtete), die Tetralogie zweimal zyklisch. Schon 1981 waren für Dew die Gefahren der Atomenergie und das damit zusammenhängende Verhältnis von Natur und den in sie willkürlich eingreifenden Menschen das Leitthema seines Regiekonzepts. Das war damals durchaus neu. Harry Kupfer kam ja mit seiner auch auf die Konsequenzen der Atomenergie abstellenden „Ring“-Inszenierung erst nach Tschernobyl 1988 in Bayreuth heraus. Dews zweite Inszenierung im Jahre 2011 bot also in Bezug auf das Hauptthema nichts Neues. Im Finale des „Rheingold" prangt Walhall bei Wotans „Abendlich strahlt der Sonne Auge“ als ein wie aus dem Ei gepelltes neues AKW, davor ein Sperrgitterzaun mit dem aus heutigen Konflikten mit Atomkraftgegnern bekannten Polizeiaufgebot und dem Regenbogen davor. Zu unerwarteter und neuer Aktualität verhalf Dew aber die Fukushima-Katastrophe in Japan, die nur etwa drei Monate vor der Premiere seines neuen „Ring“ mit dem „Rheingold“ im Juni 2011 passierte - wie eine Rückbestätigung seiner Ansicht, dass „Wagners Musik gewordene Endzeitversion auch heute nichts von ihrer Aktualität verloren, sondern eher noch an Schrecken gewonnen hat.“
Dew verfällt mit diesem Thema aber nicht in eine platte Regietheater-Ästhetik, sondern schafft trotz der Ansiedlung des Geschehens in der Gegenwart immer wieder nachdrückliche Beziehungen zu Wagners „Ring“-Mythos. Dabei gibt es zwar einige, aber nur wenige Ausrutscher in „Rheingold“ und „Walküre“. Einen starken Eindruck macht das zwar einfache, aber umso wirkungsvollere und sehr variationsfähige Bühnenbild von Heinz Balthes, das aus acht bühnenhohen dunklen Stelen besteht, die an die Säulen der Gibichungenhalle von Wieland Wagner erinnern, dessen Inszenierungsstil Dew im Übrigen zum Thema seiner Bachelor-Arbeit machte. Immer wieder kommen trotz aller Aktualisierung Elemente und Stimmungen aus der mit Licht und Raum arbeitenden Bühnenästhetik Wieland Wagners zum Vorschein und verleihen der Handlung eine größere Dimension. Dass Dew hier und da Momente der Komik einstreut, kommt einem gewissen humoresken Charakter des „Rheingold“ ebenfalls zugute. Die acht Stelen werden von Bild zu Bild - auch in der „Walküre“ - anders gesetzt und dabei stimmungsvoll beleuchtet, bisweilen auch unter wohl dosiertem Einsatz von Bühnennebel, sodass nie der Eindruck eines Einheitsbühnenbildes entsteht. Und es macht sich im „Rheingold“ nicht einmal negativ bemerkbar, dass der Bildwechsel vor geschlossenem Vorhang stattfindet. Man kann den wunderbaren Orchesterzwischenspielen lauschen, auch den eindrucksvoll aus dem ganzen Raum erklingenden Nibelungenambossen, und bekommt dann ein interessantes neues Bild zu sehen. Die Kostüme von José-Manuel Vázquez zeigen Götter und Menschen im Outfit unserer Tage. Wotan ist eine Art Industriemanager und wirkt in der Figur von Ralf Lukas bisweilen wie der hyperaktive deutsche Ex- Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg…
Das „Rheingold" beginnt mit einem durch bewegte Tuchbahnen bläulich wallenden Rhein, in denen die Rheintöchter vor dem als unbedarfter Wandergesell' auftretenden Alberich Versteck spielen. Margaret Rose Koenn als Woglinde, Erica Brookhyser als Wellgunde und Gae- Hwa Yang überzeugen mit anmutigem Spiel und guten Stimmen. Wotan bewundert im lokalen Darmstädter Echo mit Begeisterung die Fertigstellung des AKW mit Großfoto auf der Titelseite. Fafner und Fasolt als Arbeiter in modernen gelben Overalls mit Schutzhelm à la Bernard Shaw fordern ihren Sold, und Loge in der Figur von Albert Einstein verweist mit der Formel E=mc2 im Rahmen von dessen Relativitätstheorie auf die „Masse-EnergieÄquivalenz“, die Atombombe und AKWs zugrunde liegt. Recht passend eigentlich, denn relativ ist für Loge ja auch der Raub des Goldes: „Was der Dieb stahl, stiehlst Du dem Dieb, ward leichter ein Eigen erlangt?“ Scott MacAllister kann als Loge mit wenig tenoraler Resonanz und allzu häufigen Textfehlern nur bedingt überzeugen. Urmythologisch und damit in geschicktem Kontrast zur Profanität des Alltagsgeschehens wird die überdimensionierte Erda im Halbdunkel vor dem rotierenden Erdball sichtbar, mit dem Seil in der Hand, das die Nornen darüber ahnungsvoll halten - ein starkes Bild! Elisabeth Hornung kann mit einem nicht in allen Lagen gut ansprechenden Alt dieser großen Wirkung nicht ganz gerecht werden. Anja Vincken als Freia wirkt stimmlich nicht mehr ganz frisch und hat auch Höhenprobleme. Thomas Mehnert agiert sehr akzentuiert als Fafner und verleiht ihm einen klangvollen Bass, während sein Kollege Stephan Bootz als Fasolt zwar sprachlich gut artikuliert, aber es an stimmlicher Farbe missen lässt. Auch Carl-Christof Gebhardt als Froh kann den wenigen Versen keinen tenoralen Wohlklang verleihen, während Lasse Penttinen als Mime in seinem kurzen Auftritt mit großem schauspielerischem Talent und einem sehr gut artkulierenden Tenor aufwartet, der schon ein leicht heldisches Timbre aufweist. Oleksandr Prytolyuk singt den Donner mit einem nicht allzu großen, aber gut geführten Bariton.
Nach einem stimmlich nicht ganz überzeugenden Beginn steigert sich Olafur Sigurdarson im 3. Bild als nun zum feisten Großkapitalisten im Nadelstreif mutierten Alberich enorm und wird zu einem wahrlich ernsten Gegner auf Augenhöhe von Ralf Lukas als Wotan. Dieser gestaltet die Rolle mit sehr guter gesanglicher Note, ist mit seinem wohlklingenden, wenn auch nicht allzu großem Bassbariton bei exzellenter Diktion und gutem stimmlichem Ausdruck um entsprechende Phrasierung bemüht. Allein bei den großen Herausforderungen der „Walküre“ kommt er stimmlich leicht an seine Grenzen. Aber Lukas agiert gerade hier mit einer unglaublichen Empathie. Seine Auseinandersetzung im 2. Aufzug mit Fricka und Brünnhilde, wie auch im dritten mit dieser, gehörte zu den Höhepunkten der beiden Abende. Überhaupt ist die Personenregie John Dews ganz gezielt auf die Dramatik und Tragik der individuellen Konstellationen abgestimmt - daraus bezieht diese Inszenierung viel Kraft. Gundula Hintz muss die Fricka einmal mehr als keifende Ehefrau spielen. Das geht auch anders, aber irgendwie passte es zu ihrer Erscheinung. Bei einer recht ausgewogenen Mittellage verliert die Stimme in dramatischeren Phasen schnell an Klang und wird etwas grell.
Einige Requisiten, wie der Reichsadler, Wotan auf seinem Pferd Sleipnir oder die Germania, verweisen in Hundings stilvoller Küche auf den Hintergrund des „Ring“, während der Hausherr selbst nicht ganz passend in der Polizeiuniform der AKW-Wächter auftritt. James Moellenhoff gibt der Rolle mit seinem imposanten Bass und souveräner Gestaltung eine dunkel bedrohliche Note. Dass er den armen Siegmund, der planmäßig mit dem endlich einmal gekonnt zersplitternden Schwert hantiert, einfach mit einer Pistole abknallt, gehört ebenso wie die entbehrlichen Offiziersuniformen von Donner und Froh zu den wenigen Schwächen dieser beiden Abende. Vincent Wolfsteiner, der auch optisch große Sympathien entfaltet, entfesselt als Siegmund im Zusammenspiel mit der einspringenden Marion Ammann als Sieglinde wahrlich mitreißende Emotionen in einem so intensiv selten erlebten 1. Aufzug der „Walküre“. Das Publikum war schlicht begeistert, und es ist einfach unverständlich, dass das Haus hier den Vorhang zu lässt und die KünstlerInnen um ihren verdienten Applaus bringt, auch wenn man bedenkt, dass es bei weitem nicht ausverkauft war und man den trotz aller Wetterunbillen Gekommenen damit eine große Freude gemacht hätte. Wolfsteiner gibt auch vokal alles und hat eine gute Siegmund-Stimme, wenngleich es etwas an klanglicher Wärme und Rundung mangelt. Er führt seinen heldischen Tenor nicht immer ganz auf Linie und singt auch etwas von der Substanz. Manches klingt da zu sehr auf dem Hals. Auch sollte er die hellen Vokale etwa mehr öffnen. Ammann, ohnehin eine der besten Sieglinden unserer Zeit, war an diesem Abend einfach umwerfend. Wie immer gestaltete sie die Rolle mit ihrer ausgefeilten Mimik und emotionalen Intensität äußerst authentisch, war zu jedem Moment total auf die Situation eingestellt. Aber auch stimmlich gelangen ihr wunderbare Momente voller Verinnerlichung auf der einen und glaubhafter Expressivität auf der anderen Seite, stets mit einer lyrischen Note gesungen. Nahezu unhörbar fein moduliert kam die Phrase „… hört’ ich als Kind - -“. Die auch optisch sehr bühnenwirksame Amman besticht durch ihre saubere Tongebung und eine in jeder Phrase perfekte Artikulation - da stimmt einfach alles, und sie bildete an diesem Abend mit Wolfsteiner ein Wälsungenpaar, welches das Publikum schlicht in seinen Bann zog. Katrin Gerstenberger komplettierte mit einer schön gesungenen und auch mit viel Emphase gespielten Brünnhilde die gute Besetzung der Hauptrollen. Schon ihr „Hojotoho“ konnte beeindrucken, aber dann gefiel sie mit ihrer warmen und sicher geführten klangvollen Mittellage, guten Artikulation und ansprechenden Höhen - bis auf einige Spitzentöne, die aber nur wenige ihrer Kolleginnen wirklich problemlos schaffen. Man muss sich fragen, warum Gerstenberger nicht auch auf anderen Bühnen als Brünnhilde zu erleben ist. Das Walküren-Oktett im Flughafen- Tower (!) (Julie Davis, Maria Victoria Jorge Hernándiz, Erica Brookhyser, Elisabeth Hornung, Susanne Geb, Anja Vincken, Hye-Young Choi, Gundula Schulte) war insbesondere im Ensemble stimmstark und harmonisch im Klang. Man kann dennoch verstehen, dass die Piloten bei dieser Art der Kommunikation am Boden blieben…
Am Schluss findet Dew eine geschickte Lösung für den Feuerzauber: Wotan zieht einen riesigen roten Vorhang um die in der Bühnenmitte zum Schlaf gebettete Brünnhilde, der dann von innen in Wallung versetzt wird und wie ein großes Flammenmeer wirkt, dabei aber gleichwohl auch eine gewisse Poesie entfaltet. Ein passender Schlusspunkt eines Abends, an dem der Spagat zwischen aktualisierender Thematik und dem Wagnerschen Mikrokosmos des „Ring“ gut gelang. Der blutjunge neue GMD von Darmstadt, Martin Lukas Meister, dirigierte erst seine zweite „Walküre“ überhaupt und machte das mit dem nicht nur zahlenmäßig, sondern auch qualitativ gut besetzten Staatsorchester Darmstadt bestens. In den reinen Orchesterstücken immer wieder Tempo und Intensität anziehend, was zu einem oft sehr plastischen Klangbild führte, ging er stets auf die SängerInnen ein und stellte große Harmonie zwischen Graben und Bühne her. Meister hat noch viel Zeit, aber er ist mit dieser Leistung sicher auf einem guten Weg zu einem wirklichen Meister, eine große Hoffnung am Dirigentenhimmel. Im kommenden Mai läuft die Tetralogie in Darmstadt noch einmal.
Fotos: Barbara Aumüller
Klaus Billand (www.klaus-billand.com)