In Lübeck inszenierte der mit dem „Ring des Nibelungen“ und „Parsifal“ hier sehr erfolgreiche Anthony Pilavachi mit dramaturgischer Assistenz von Richard Erkens nun „Tristan und Isolde“ als unerfüllte romantische Liebesbeziehung Richard Wagners (alias Tristan) zu Mathilde Wesendonck (alias Isolde) und siedelte das Stück in einem großbürgerlichen Ambiente an. Gleich zu Beginn sieht man statt auf ein Schiffsdeck in ein schon etwas vom Verfall gezeichnetes hochherrschaftliches Zimmer. Es ist bereits zum eleganten Diner gerichtet, welches natürlich nie stattfinden wird… Tatjana Ivschina ist für das über die drei Aufzüge weiter verfallende Bühnenbild und die zu dieser Ästhetik passenden Kostüme aus der Entstehungszeit des Werkes verantwortlich. Dass wir uns dennoch auf einer Reise befinden, einer Reise durch stärkste Emotionen und Gefühle, wie sich bald herausstellen wird, ist an den Schiffsplanken des Bodens sichtbar, die später das Licht von unten durchlassen. Auch Heiner Müller hatte sich in seiner genialen Bayreuther „Tristan“- Produktion lediglich auf zwei symbolisch Wasserbewegungen andeutende Lichtstreifen zu beiden Seiten der Bühne beschränkt. Das erzielte schon damals ausreichend Wirkung, um die Schifffahrt von Irland nach Cornwall zu suggerieren.
Anthony Pilavachi - und das hat er an diesem Hause, welches untrennbar mit dem Namen Thomas Manns verbunden ist, schon wiederholt unter Beweis gestellt - ist ein Meister der Psychologie. Man erlebt mit seinem „Tristan“ ein äußerst spannendes psychologisches Musikdrama, welches alle emotionalen Facetten und menschlichen Enttäuschungen der Protagonisten konsequent aufzudecken vermag. Schon bei der ersten Begegnung Tristans mit Isolde, nachdem Isolde und Brangäne in wartender Haltung schwer vom jungen Seemann, Kurwenal und deren Entourage gedemütigt worden sind, gibt es eine zärtliche Annäherung, welche die ganz große Liebe wenig später unmissverständlich erahnen lässt. Ein Liebestrank ist kaum noch nötig. Die Kussorgie mit überstürzten Entkleidungsversuchen, die zum Schluss des 1. Aufzugs Tristan und Isolde für den gebieterischen Eintritt König Markes und seines Gefolges erblinden lässt, sucht in „Tristan“- Inszenierungen der letzten Jahre sicher ihresgleichen… Auch hier dachte Pilavachi nicht zuletzt wohl an Biografisches aus dem Leben des Komponisten…Die Lichtregie von Falk Hampel, die hier wahrlich dramaturgischen Charakter hat, trägt enorm zur Suggestivkraft dieser und späterer Szenen bei.
Mit einer unerträglichen Fixierung Isoldes durch Marke beginnt der 2. Aufzug in ebenso tiefer Depression wie der erste im Liebestaumel endete. Sublim, aber schon Gefahr andeutend, sieht man langsam die Fackelträger der Jagdgesellschaft im Wald verschwinden und die Hörner verhallen - auch hier psychologisch stark aufgeladene Bilder. Schon kündigt sich der Herbst mit Laub im verfallenden Zimmer an, der Kronleuchter hängt in Trümmern herunter, die Dinner-Stühle sind achtlos in die Ecke geworfen. In diesem Ambiente lebt beider Liebe noch einmal höchst romantisch auf, als Tristan zu Isolde tritt und ihr, also Mathilde Wesendonck, ihre von ihm vertonten (Wesendonck-) Lieder übergibt - eine Szene von größter Poesie und 2 Intimität, zweifellos das Herzstück dieser Inszenierung. Die über alles loyale Dienerin ihrer Herrin, Brangäne, hat zuvor mit mehr oder weniger Erfolg Melot vertrieben.
Die Romantik der Liebe hat aber bei Pilavachi auch eine erotische und damit durchaus wirklichkeitsnahe Entsprechung. Während der in Liebesschwelgen versinkenden Musik nach dem Duett gehen beide kurz aus der Szene und kommen mit Badehandtuch bzw. heraushängendem Hemd wieder herein. Da war also doch was… In der „echten“ Liebesbeziehung Wagners zu Mathilde blieb das ja bis heute im Dunkel. Man war allerdings gut beraten, diesen kurzen Ausflug in den Verismo sinnbildlich zu deuten, denn ein „Quickie“ solcher Art hätte der bisher zu erlebenden Ästhetik doch widersprochen… Realistisch drastisch ist dann allerdings auch der Selbstmordversuch Tristans, der sich das Messer Melots mehrmals in den Leib rammt. Isolde wird überhastet weggerissen, ein tiefer Fall… Bei aller poetischen und psychologischen Schwerpunksetzung macht der Regisseur immer wieder klar, dass ihm auch am Realitätsgehalt dieses Meisterwerks gelegen ist.
Der 3. Aufzug bringt tiefgründige Assoziationen an das Ende Wagners in Venedig. Verschwommen gewahrt man den dunklen Canale Grande über der Szene, in der Tristan an einem Flügel sitzt und letzte Noten für Mathilde schreibt. Die kontemplative Aura wird zweimal unterbrochen von dem „jungen Tristan“, der mit einem Grabkranz an den Tod in Venedig erinnert, während einige schwarz gekleidete Männer im Hintergrund Wagners Sarg aus dem Palazzo Vendramin hinaustragen… Düstere Melancholie liegt über allem, verstärkt natürlich durch ein wunderschön gespieltes Englischhorn-Solo von Wolfgang Eickmeyer an Tristans Seite. In einem wundersam poetischen Schluss siegen Liebe und Kunst über den Tod: Isolde tritt aus gleißendem Licht zum sterbenden Tristan, der noch einmal erwacht und ihr die aus allen Richtungen herabfallenden Notenblätter gibt - wie im 2. Aufzug, ein letzter Akt der Liebe und Zuneigung. Sie setzt ihm den Lorbeerkranz auf, und er schläft in poetischem Frieden mit sich selbst ein. Ein Schluss, der in seiner Subtilität und Gefühlsintensität wie damals Pilavachis Finale der „Götterdämmerung“ bestens zum zuvor Erlebten passte.
Edith Haller sang in Lübeck ihre erste Isolde mit ihrem in der Mittellage gut artikulierten hellen Sopran und exzellenter Diktion und Phrasierung. Sie scheint bei aller darstellerischer Qualität in der Umsetzung dieses Rollenprofils sängerisch gleichwohl noch nicht hundertprozentig in der Partie angekommen zu sein. Schon im 1. Aufzug, mehr noch aber im Duett mit Tristan im zweiten, wo auch einige hohe Cs zu singen sind, neigt ihr Sopran in der Höhe zu leichter Schärfe. Für den Rezensenten ist ihre Stimme doch eher noch eine der Sieglinde. Kommt die Isolde möglicherweise etwas zu früh?! Peter Svensson als äußerst kurzfristiger Einspringer für Richard Decker bestach durch seinen kraftvollen Heldentenor und eine an psychologischer Intensität im Leiden keine Wünsche offen lassenden Darstellung. Svensson ist ein wahrer Heldentenor mit stählerner glanzvoller Höhe. Seine stimmliche Kraft könnte er manchmal zugunsten einer feineren Modulierung etwas zurücknehmen, wie sein Vortrag bisweilen auch weniger expressiv sein könnte. Er hat dazu alle stimmlichen Mittel. Das bewies er u.a. mit wunderschönem Legato beispielsweise bei „Das Schiff, siehst Du’s noch nicht…?“
Die dem Rezensenten in Lübeck schon länger auffallende polnische Mezzosopranistin Wioletta Hebrowska bekam nun auch bei Wagner eine erste große Rolle mit der Brangäne. Sie machte dies darstellerisch und auch sängerisch mit ihrem hell getönten farbigen Mezzo vorzüglich. Allein, bei einigen Höhen kam sie leicht an ihren stimmlichen Grenzbereich. Martin Blasius sang einen erschütterten und unglaublich leidenden König Marke mit großem Bassvolumen, viel Ausdruck und guter Phrasierung, wenn auch nicht immer mit bester stimmlicher Beweglichkeit. Michael Vier gab einen kantig prägnanten und stimmstarken Kurwenal, fand im 3. Aufzug aber auch zu schönen lyrischen Momenten. Tadellos der Rest des Ensembles mit dem sehr guten Melot von Jonhoon You, den Pilavachi wie Ägisth in „Elektra“ abstechen lässt, Daniel Jenz als jungem Seemann und Hirten mit klangreinem Tenor und Kong Seok Choi als Steuermann. Allerdings ist zu sagen, dass - wohl auch begünstigt durch die relativ kleine Bühnenbox - fast alle Stimmen oft zu laut klangen, zumindest im Parkett. Exzellent auch die Herren des Chores und Extrachores des Theater Lübeck.
Der frühere GMD Roman Brogli- Sacher kehrte für diesen „Tristan“ an das Theater in der Beckerstrasse zurück. Er machte mit seiner äußerst mitnehmenden und kompetenten Wagner-Interpretation deutlich, was er an diesem Hause für die Musik des Bayreuther Meisters geleistet hat. Das Philharmonische Orchester der Hansestadt Lübeck spielte wieder einmal auf beeindruckend hohem Niveau und bewies seine nicht zuletzt durch den „Ring“ und den „Parsifal“ gereifte Wagner-Erfahrung. Brogli-Sacher ließ im Vorspiel auch etwas - hier durchaus einmal angebrachtes - Pathos aufkommen und modulierte die vielen Steigerungen und kontemplativen Phasen mit der versierten Hand eines Kenners der Wagnerschen Musik. Ein erneutes Lob für das doch relativ kleine Lübecker Haus, ein solch hohes Niveau regelmäßig zu erreichen. Die ebenso sehens- wie hörenswerte Produktion ist noch zu erleben am 19.1., 23.2., 23.3., 13.4., 27.4. und 11.5.2014.
Fotos: Jochen Quast
Klaus Billand (www.klaus-billand.com)