Mit der WA der „Götterdämmerung“ in Amsterdam aus dem Jahre 1998 bewies Regisseur Pierre Audi einmal mehr, welch fantasievolles und spannungsgeladenes Wagner-Musiktheater man mit technisch neuartigen Mitteln machen kann, wenn sie sich in den Dienst der Werkaussage stellen und kein Eigenleben entwickeln, wie beispielsweise bei Peter Hall in London oder der mittlerweile schon leidig gewordenen machine von Robert Lepage an der Met. Mit der Einbettung des Orchesters in das Geschehen auf einer riesigen Ring-Bühne aus Holz und einer monumentalen Ausgestaltung des Bühnenraumes bis in höchste Höhen und Weiten, sowie den stilvoll asiatisch angehauchten Kostümen erreicht diese Produktion eine optische Dimension und Wirkung, die auch heute noch ihresgleichen suchen. Das Regiekonzept von Audi und seinem Dramaturgen Klaus Bertisch, dem Bühnenbildner George Tsypin (der 2003 auch den gelungenen „ossetischen“ „Ring“ in St. Petersburg ausstattete), mit den Kostümen der (bereits verstorbenen) Kostümbildnerin Eiko Ishioka und ihres Kollegen Robby Duiveman, dem Lichtdesign von Wolfgang Goebbel und Cor van den Brink sowie den Videos von Maarten van der Put konnte das Amsterdamer Publikum auch nach so langer Zeit an diesem Abend wieder begeistern.
Dieser „Ring“ spielt auf einer riesigen Holzscheibe, die stark zum Parkett hin geneigt ist und nicht nur eine interessante Choreografie (Amir Hosseinpour) sondern auch effektvolle Auf- und Abgänge ermöglicht. Das Orchester und der Dirigent sind allzeit sichtbar und werden so zum integralen Bestandteil der Produktion. Sie stören in keiner Weise den dramaturgischen Ablauf um sie herum. Es wirkt optisch wie musikalisch in der Tat wie das vom Komponisten gewünschte Gesamtkunstwerk… Regiekonzept, Bühnenbild, Kostüme und Choreografie, sowie die immer wieder faszinierend Stimmungen und Situationen intensivierende Lichtregie würden aber nicht die schon allein theatralisch beeindruckende Wirkung erzielen, wenn das Regieteam nicht eine ausgezeichnete Personenregie entwickelt hätte. Wie schon in der „Walküre“ im vergangenen April wirkt sie auch in der „Götterdämmerung“ nach 15 Jahren noch völlig frisch. Audi zitiert bei allem zeitlosen und klar konturierten Design mit einem relativ hohen Abstraktionsgrad immer wieder den Wagnerschen Mythos, ohne den jeder „Ring“ eigentlich blass bleiben muss.
Schon der Prolog mit den Nornen hat mythische Dimensionen, die eben auch am besten zur hier erklingenden Musik passen. Sie tragen ein großes Auge auf dem Rücken, sehen also, wie Wagner es schreibt, in die Vergangenheit. Ein riesiger Balken schwebt über der Szene wie ein drohendes Damoklesschwert. Später wird er mit einigen anderen als Teil der Gibichungenhalle spektakulär Feuer fangen. Die Gibichungenszene findet durch die Bewegung der Figuren auf dem Bühnen-Ring bisweilen nahe am Parkettpublikum statt. Auch die Rheintöchter werden später hier - ebenso wie immer wieder Hagen mit seinem beängstigend wirkenden Speer aus Aluminium - direkt vor das Publikum treten. Das schafft dramaturgisch, aber auch vokal, große Direktheit im Erleben des Geschehens und damit - trotz einer gewissen Bombastik der Produktion - intime Nähe. Dieser „Ring“ ist gewissermaßen mitten unter uns und geht uns folgerichtig alle an.
Mythisch verbrämt läuft auch die Nachtszene zwischen Hagen und Alberich im 2. Aufzug ab, der schließlich im Boden versinkt. Die Mannen wirken mit ihren Masken und irdenen Farben wie die große Terracotta-Armee des ersten chinesischen Kaisers Qín Shǐhuángdì bei der alten Kaiserstadt Xi´an. Sogar ihre versteinerte Choreografie legte diese Assoziation nahe. Hinsichtlich ihrer Funktion in der „Götterdämmerung“ machte das durchaus Sinn und harmonierte bestens mit der asiatischen Ästhetik der Kostüme. Berührend gestalten Audi und sein Team Siegfrieds Sterbeszene, in der Brünnhilde in tiefem Schwarz zu ihm tritt und nach seinem Tod zum Trauermarsch selbst verzweifelt zusammenbricht. Nachdem sie in einem wallenden roten Tuch den symbolischen Feuertod erlitten hat, nehmen die Rheintöchter den Ring zurück und versenken Hagen im Bühnenboden. Oben zertrümmert eine riesige Lanze die Bühnendecke und lässt Walhall explodieren. Ein eindrucksvolles Untergangsspektakel läuft ab, an dessen Ende das Rheingold in seinen aus Maschinenelementen bestehenden Einzelteilen wieder am Bühnenhintergrund erscheint. Das Spiel kann von Neuem beginnen…
Auch vokal war diese Amsterdamer „Götterdämmerung“ ein wahres Erlebnis. Die neue Bayreuther Brünnhilde, Catherine Foster, präsentierte sich in Topform und war stimmlich wie darstellerisch ungemein präsent. Fast meinte man, sie sei vokal nach Bayreuth noch dramatischer geworden. Immer wieder berührte sie auch darstellerisch mit ihrer natürlichen, niemals übertriebenen Mimik. Stephen Gould als Siegfried befindet sich momentan ganz offenbar auf der Höhe seiner Wagnerschen Gesangskunst. Der Rezensent hat ihn noch nie in dieser Qualität gehört, und zwar in jeder Hinsicht: Heldentenoraler Glanz, Höhensicherheit, stimmlicher Ausdruck, Diktion und Phrasierung, aber auch feines Legato, wo erforderlich - und dazu noch ein enormes Maß an Emotionalität in der Darstellung, die stets das Menschliche in den Vordergrund stellt. Das war schlicht derzeitige Weltklasse. Offenbar arbeitet Gould seit einiger Zeit mit einem neuen Vocal Coach zusammen. Man kann sich nur freuen, diesen Siegfried momentan erleben zu können und auf seinen Tristan 2015 in Bayreuth gespannt sein.
Daneben war Alejandro Marco-Buhrmester wie gewohnt ein stimmlich exzellenter Gunther mit lyrischem und stets gesangsbetontem Timbre. Er spielte auch die ganze Tragik dieser undankbaren Rolle aus. Astrid Weber als Gutrune konnte hingegen nur mit ihrer klangvollen Mittellage überzeugen, in der Höhe neigte ihr Sopran zu einigen Schärfen. Kurt Rydl war ein immer noch imposanter Hagen, wenngleich man aus rein gesanglicher Perspektive mittlerweile doch erhebliche Abstriche machen muss. Aber Rydl liegt der Hagen, er ist ihm im wahrsten Sinne des Wortes auf den Bauch geschrieben, denn dessen Blöße war hier den ganzen Abend zu sehen… Und er spielte gekonnt seine ganze Routine bei dieser so lange Jahre gesungenen Partie aus. Auch wenn Rydls profunder Bass oft zur Deklamation tendiert, ist er mit seiner schieren vokalen Kraft nahezu omnipotent und Angst einflößend - der notwendige und passende Gegenpol zu einem an diesem Abend zu erlebenden starken Siegfried.
Werner Van Mechelen sang einen eindrucksvollen Alberich mit bester Höhe, perfekter Wortdeutlichkeit und intensiver Darstellung. Michaela Schuster gab wieder einmal die Waltraute mit viel Engagement, aber nicht immer ganz sitzenden Spitzentönen. Das Nornen- Terzett aus Nicole Piccolomini (Erste Norn), Barbara Senator (Zweite Norn) und Astrid Weber (Dritte Norn) sang überzeugend. Die nicht nur durch ihre nixenhaft erotisch anziehenden Kostüme attraktiv wirkenden Rheintöchter wurden von Machteld Baumans (Wogkinde), Barbara Senator (Wellgunde) und Bettina Ranch (Flosshilde) mit klangvollen und kräftigen Stimmen gesungen. Der von Eberhard Friedrich (ja, dem Bayreuther Chordirektor!) einstudierte Chor der Niederländischen Oper agierte mit großer Intensität auf höchstem vokalen Nivau.
Hartmut Haenchen stellte mit dem Niederländischen Philharmonischen Orchester einmal mehr unter Beweis, dass er zu den profiliertesten Wagner-Dirigenten unserer Tage gehört. Er dokumentierte seine große Affinität für Wagners Musik und leitete das Orchester mit viel Verve und Impetus. Dies war eine musikalische Darbietung von Festspielniveau. Alles stimmte, die Dynamik, die Rücksicht auf die SängerInnen und die Harmonie zwischen Musik und dem Bühnengeschehen, was umso nachvollziehbar gelang, als beide gewissermaßen auf Augenhöhe nebeneinander agierten. Und die Blechbläser waren, nicht zuletzt mit perfekten Hornrufen im 3. Aufzug, in Topform - sicher auch Ausdruck des allgemein feststellbaren hohen Begeisterungsgrades aller Musiker dieses hervorragenden Klangkörpers. Es war ein Fest - ein Fest der Sinne…! Die Niederländische Oper hat mit diesem sehenswerten „Ring“ dem Bayreuther Meister in seinem Jubiläumsjahr standesgemäß die Ehre erwiesen.
Fotos: Marco Borggreve
Klaus Billand (www.klaus-billand.com)