Seit dem Erlebnis von Deborah Voigt als Brünnhilde (und nicht nur ihr) in einer Met Opera HD live Aufführung des Lepage-„Ring“ in der Saison 2011/12 und dem Live-Erlebnis in der Met im Mai letzten Jahres mit ihrer „Walküre“- und „Götterdämmerung“-Brünnhilde (Merker 6/2012) bin ich äußerst skeptisch geworden, ob eine Beurteilung sängerischer Leistungen anhand einer Kino-Aufführung sinnvoll, ja überhaupt zulässig ist. Zu sehr klaffte damals vokaler Glanz im Kino und das allzu häufige Gegenteil auf der Bühne der Met auseinander. Zu wahrscheinlich war also das Drehen an den berühmten Knöpfen des Synthesizers bzw. Mischpults, und das ist nicht nur eine Verdrehung der Realität (im wahrsten Sinne des Wortes), sondern stets auch eine Benachteiligung all jener SängerInnen im Wettbewerb um gute Besetzungen, die es in das Medium Met Opera HD live nicht schaffen.
Eines kann man aber am heutigen Abend nach dem Erlebnis des „Parsifal“ in der Regie des Franzosen Francois Girard sicher sagen: Alle Sänger agierten auf einem sehr hohen Niveau und vermochten auch mit bester darstellerischer Leistung zu überzeugen. Allen voran natürlich Jonas Kaufmann in der Titelrolle, der damit wohl einen seiner bisher medienwirksamsten Auftritte absolviert hat. Der Hype um ihn, und er wird gerade durch diese Met Opera HD live Programmatik ins Unermessliche gesteigert, nimmt nun nahezu Netrebkosche Dimensionen an, und das ist im Sinne der Kunst eigentlich nicht gut. Es können auch eine ganze Menge andere KünstlerInnen sehr gut Wagner und andere Komponisten singen und darstellen. Aber sie werden somit der großen Masse möglicher Operninteressenten - und die sitzen gerade in den Kinos, was sehr gut ist für die Erhaltung dieser Kunstform - nicht bekannt. Wenn man das, was gestern Abend von Kaufmann zu hören war, für bare Münze nimmt, müssten interessierte Agenten ihn umgehend zum Vorsingen für den Siegfried einladen. Man weiß aber, dass das nicht geht, und auch der Siegmund, wie die Erfahrung an der Met in der Saison 2011/12 zeigte, scheint für ihn schon grenzwertig zu sein. Unbestritten ist wohl, dass Kaufmann erstklassige Qualitäten als Parsifal und Lohengrin hat, sicher die Wagner-Partien, bei denen er in seinem Fach singt. Auch bei Katarina Dalayman, seit langem schon mit der Brünnhilde überfordert, kann zumindest ich mir nicht vorstellen, dass sie die tückischen Höhen ab der Mitte des 2. Aufzugs so gut gesungen hat, wie es hier in Met Opera HD live klang. Sicher liegt die Kundry viel tiefer als die Brünnhilde, aber letztendlich wird bei einer Sopran-Tessitura auch bei der Kundry dramatische Höhe gefordert - hier klang es doch verdächtig rund und harmonisch. René Pape war ein ganz großartiger Gurnemanz, mit viel Wärme und Geschmeidigkeit seines wohlklingenden Basses und einnehmendem darstellerischem Ausdruck. Man weiß aus wirklicher live-Erfahrung, dass er mittlerweile ein sehr guter Bass auch für große Wagner-Rollen ist.
Die eigentlichen Neuigkeiten des Abends schienen mir nach dem klanglichen und darstellerischen Eindruck aber Peter Mattei mit seinem Rollendebut als Amfortas und Evgeny Nikitin als Klingsor zu sein. Mattei gab den bei Girard sehr menschlich und intensiv leidenden Amfortas mit einem höchst kultivierten, klangvollen und prägnanten Bassbariton, ein Ohrenschmaus! Evgeny Nikitin, der als Holländer aus hinreichend bekannten Gründen in Bayreuth 2012 nicht an Land gehen konnte, machte einmal mehr deutlich - selbst wenn man mögliche Mischpulteffekte eliminiert - dass er eine ganz große Hoffnung im Wagnerfach ist und wohl nicht nur ein sehr guter Holländer sein kann. Mir war er im Gergiev-„Ring“ in St. Petersburg schon 2003 als kantabler und stimmstarker Gunther und Fasolt aufgefallen. Neben den stimmlichen Mitteln brachte Nikitin auch alle nur denkbare Bösartigkeit und viel Zynismus in die Rolle des Klingsor ein - sein Dialog mit Kundry wurde zu einem der Höhepunkte des Abends. Da scheint auch der Wotan nicht mehr allzu weit zu liegen…
Daniele Gatti am Pult fand mit dem wie meist bei Wagner kompetent aufspielenden Met- Orchester nach einer fast endlosen Zerdehnung des 1. Aufzugs im Mittelaufzug zu einem hier ohnehin angesagten flüssigeren Tempo und größerer Dynamik. Im 3. Aufzug verfiel er jedoch phasenweise wieder in die Lethargie des Beginns. Schon bei seinem „Parsifal“-Debut in Bayreuth 2008 war das zu erleben. An der Met passte es allerdings besser zur Inszenierung.
Dieser Met-Abend im Wiener Cineplexx hat einmal mehr klar gemacht, dass sich mit dem Medium „Oper im Kino“ ein ganz eigener, cineastischer Opern-Erlebnis-Stil etabliert, der eine nahezu perfekte Stimm- und Tonqualität herstellen kann und durch die Kameraführung, die bei diesem „Parsifal“ schlicht exzellent war, auch ganz neue emotionale Einblicke eröffnet. Das ist insbesondere für jenes Publikum von Bedeutung, welches durch das Medium Kino vielleicht erst an die Oper herangeführt wird. Damit hat diese Form der Vermittlung hohen Wert. Nichts geht aber über das Live-Erlebnis eines in realiter erlebten Opernabends in einem Opernhaus bzw. open air, mit all den kleinen oder großen - auch menschlichen - Unwägbarkeiten, die aber das Leben und Erleben so spannend machen…
Es ist jedoch bedauerlich und für mich sogar irritierend, dass im Laufe des gesamten Abends von der Met-Regie und dem uninspiriert moderierenden Eric Owens (u.a. Alberich an der Met und in San Francisco und zuletzt Telramund an der DOB) nicht einmal erwähnt wurde, dass diese Neuproduktion bereits im März 2012 in Lyon gelaufen ist und eine Koproduktion nicht nur mit dem von Serge Dorny äußerst kompetent und einfallsreich geführten Haus im Midi sondern auch mit der Canadian Opera Company Toronto ist. Die intelligente Inszenierung von Girard in den Bühnenbildern von Michael Levine, den Kostümen von Thibault Vancraenenbroeck und mit der Beleuchtung von David Finn sowie den Videos von Peter Flaherty setzt auf die Entwicklung Parsifals vom jungen Toren zum reifen Mann in einem dramaturgisch wie optisch subtil herausgearbeiteten Spannungsfeld zwischen Mann und Frau. Das Ganze findet in einer Ästhetik unserer Zeit statt, sodass das Publikum unmittelbare Assoziationen zu eigenen Erlebnisbereichen entwickeln kann. Freilich ist dazu etwas Phantasie nötig, aber diese sollte ein Regisseur unserer Tage dem Publikum bei der Konfrontation mit einem Meisterwerk der Opernliteratur auch abverlangen (können). Dabei ist zentraler Punkt ein rötlich leuchtender und bisweilen flüssig brodelnder Spalt zwischen zwei Erdschollen, die das Bühnenbild stellen, im 1. Aufzug in der Horizontalen und im Klingsor-Aufzug schlüssig korrespondierend in der Vertikalen. Was dieser rötliche Spalt bedeutet, kann je nach Ausmaß der Phantasie durchaus auch erotisch interpretiert werden… Jedenfalls läge dies nahe, denn bis fast zum Finale ist dieser kleine Graben die Trennlinie zwischen Männern und Frauen - allein Parsifal wagt zum Ende des 1. Aufzugs den Übergang und beginnt damit seine Odyssee des Mitleids. Nur so und also durch ihn kann diese optische und mentale Kluft zwischen den Geschlechtern im Finale überwunden werden - Frauen und Männer kommen zusammen. Kundry hebt zur Unterstreichung dieser Vereinigung gar den Gral und stirbt, wie Wagner es wollte, erlöst in den Armen von Gurnemanz.
Dieser „Parsifal“ ist eine großartige und unter die Haut gehende Produktion, angesichts deren Qualität der Met-Commercial in der Pause zum 2. Aufzug für die demnächst folgende „Francesca da Rimini“ wie ein ästhetischer Schock wirkte. Die Kostüme, die da zu sehen waren, erinnerten an die alte, urkonservative Met-Ästhetik der 60er und 70er Jahre und sollten heute eigentlich nur noch bei rheinischen Karnevalsprinzen und -prinzessinnen und mit entsprechenden Themen auftretenden Büttenrednern zu sehen sein.
Klaus Billand (www.klaus-billand.com)